Was ist eigentlich ein Sensitiver (HSP) und was fühlt er?

Wenn Sie mit einem Sensitiven zusammenleben oder- arbeiten, raufen Sie sich vermutlich manchmal die Haare, weil Sie beim besten Willen nicht verstehen, warum er sich so verhält, wie er es tut. Sie wollen alles richtig machen, merken aber, dass sie mit ihren Bemühungen vor eine Wand oder ins Leere laufen. Ratlos stehen Sie da mit lauter Fragezeichen im Kopf, wollen einfach nur kooperieren, doch alle Regeln des normalen Umgangs und des Gesellschaftsstandards scheinen außer Kraft gesetzt zu sein. Für Sie ist diese Einführung gedacht.


Vielleicht kennen Sie als Nicht-Sensitiver Situationen, in denen Ihnen ihre Mitmenschen und die Umstände extrem auf die Nerven gehen. Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sitzen in einem Auto mitten im verrücktesten Verkehr, es wird gehupt, sie kommen nur langsam voran, alle Autofahrer sind hektisch, Sie haben es eilig, merken, dass mit dem Auto etwas nicht stimmt, befürchten eine Autopanne, müssen aber unbedingt ankommen, weil Sie einen Flug nicht verpassen wollen, das Radio plärrt und lässt sich nicht abschalten, die Mitreisenden meckern, warum Sie nicht schneller fahren, das Handy klingelt, ein anderer überholt Sie und zeigt Ihnen den Mittelfinger, warum? Was haben Sie dem getan? Warum kann der Sie überholen? Warum haben Sie die Möglichkeit übersehen? Ein Mitreisender sagt, er müsse sich übergeben, doch Sie können nicht anhalten, ein anderer Mitreisender erzählt ihnen gerade den Film vom Vorabend, vor ihnen blinken irgendwelche Verkehrswarnzeichen auf, am Straßenrand sehen sie einen überfahrenen Hund, einer der Mitreisenden trägt ein After Shave, dass Sie entsetzlich finden, ein anderer hat offenbar eine Alkoholfahne und Knoblauch gegessen, im Auto leuchtet die Warnleuchte für den Motor, Ihr Mitreisender übergibt sich, es stinkt fürchterlich und zu allem Überfluss müssen Sie dringend zur Toilette – stop! Wie fühlen Sie sich gerade?

Vermutlich würden Sie gern aus dem Auto springen, das Weite suchen und sich erstmal vom Druck auf der Blase befreien, um sich dann irgendwo im Abseits völlig genervt und erschöpft hinzusetzen und Abstand von allem zu haben, um die Sinne wieder zusammenzusammeln.

Aber Sie können nicht aussteigen. Sie entkommen der Situation nicht. Sie wissen, dass der Flieger wartet, dass da noch andere Leute bei Ihnen sind, die unterschiedlichste Bedürfnisse haben und denen Sie menschlich und moralisch verpflichtet sind, Sie denken, dass das Auto gereinigt werden muss und zwar, bevor das Flugzeug abfliegt und hoffen, dass das Auto noch bis zum Parkplatz durchhält, bevor es den Geist aufgibt. Sie kommen also aus dieser Situation nicht raus! Wie fühlen Sie sich jetzt?

Vielleicht werden Sie sagen: Okay, das wünscht sich kein Mensch, aber es ist zu schaffen. Da haben Sie recht. Aber wie wäre es, wenn Sie das dreimal oder fünfmal an einem Tag erleben? Oder regelmäßig alle zwei oder drei Tage, immer wieder? Erinnern Sie sich einfach an das Gefühl, das Sie während der Geschichte empfunden haben.

Ich will Ihnen hier nur grob einen Eindruck davon vermitteln, wie man sich fühlt, wenn man vielen drängenden Eindrücken gleichzeitig ausgesetzt ist, die sich zudem auch noch vielfach entgegenstehen. Merken Sie sich dieses Gefühl, um dahinterzukommen, was mit einem Sensitiven los ist.

Ein Sensitiver erlebt so ein Inferno von Eindrücken täglich, wenn es ihm nicht gelungen ist, sein Leben exakt nach seinen Bedürfnissen auszurichten. Und wem gelingt das schon immer? Es kann tage – und wochenlang alles im grünen Bereich sein, doch dann kommt der Tag oder eine Phase, manchmal nur ausgelöst durch eine Situation, die zusätzlich noch alte Stresspunkt triggert und es schlägt Wellen in der Psyche des Sensitiven.

Es muss aber nicht plötzlich entgleiten, sondern kann sich auch über Tage und Wochen aufbauen. Der Sensitive lebt dann quasi auf Kredit bei sich selbst und schiebt seine Energie-Schulden vor sich her, bis er es nicht mehr vor den anderen verbergen kann, einfach, weil die Ressourcen aufgebraucht sind, die es möglich machen, dass er in der Welt der Millionen Eindrücke funktioniert.

Nun werden Sie vielleicht fragen: „Aber wieso denn Millionen Eindrücke? Erlebt der nicht dasselbe wie ich? Ich merke keine Millionen Eindrücke.“ Und genau da liegt der Unterschied. Ein Sensitiver (auch Hochsensibler genannt, aber der Ausdruck trifft es nicht genau) hat die Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen, die an einem „Normalen“ unbemerkt vorbeiziehen. Auch bei den Sensitiven gibt es Unterschiede, manche hören mehr, manche riechen mehr, manche fühlen mehr, manche sehen mehr, viele jedoch nehmen von allem gleichzeitig mehr wahr, also sie hören, sehen, fühlen und riechen mehr als der Durchschnittsmensch. Manche von ihnen sind zudem noch sogenannte Synästheten, das heißt sie fühlen z. B. Geräusche oder schmecken Farben.

Die meisten Sensitiven können zwischenmenschliche Schwingungen differenzierter wahrnehmen. Oder sie können über die normale Empathie hinaus wahrnehmen, was ein anderer fühlt oder wissen, was er denkt oder was er erlebt hat. Damit kann die Wahrnehmung des Sensitiven nahtlos in die eines Mediums oder in den Bereich der Außersinnlichen Wahrnehmung (ASW) übergehen.  Das sind Fluch und Segen gleichzeitig. Denn nicht immer sind mehr Informationen etwas Positives. Vieles will man einfach nicht wissen, schon gar nicht von wildfremden Leuten oder gerade auch nicht von vertrauten Menschen. Oftmals stehen die Informationen, die ein Sensitiver über seine hochsensiblen Kanäle aufnimmt, im Gegensatz zu dem augenscheinlichen Bild einer Person.

Er merkt z. B., dass der Chef, der gesellschaftlich das Bild des selbstsicheren Machers verkörpert, viele Ängste mit sich herumträgt. Oder er fühlt, dass der in dem Menschen, der allseits für seine gütige, freundliche und milde Art bekannt ist, aggressive Gedanken brodeln. Diese Widersprüche verwirren und verunsichern. Es kostet viel Kraft und erfordern weitere Aufmerksamkeit. Und nicht allen Sensitiven ist immer bewusst, warum sie etwas wissen. So gerät dann die Spirale des Selbstzweifels und der Selbstverurteilung in Gang: „Warum denke ich so schlecht über den? Der ist doch so nett?“

Lassen Sie sich das Gelesene in Ruhe durch den Kopf gehen und versuchen, nachzufühlen, was ein Sensitiven empfindet. Er kann sich diese Empfindungen nicht aussuchen. Sie sind einfach da, so wie Sie hören, wenn ein Auto hupt oder riechen, wenn irgendwo ein Feuer brennt. Das sind normale Wahrnehmungen im Alltag. Die Sensitiven nehmen zigfach mehr, detaillierter und vielschichtiger wahr und können das oftmals nicht steuern. Sie können aber mit viel Übung lernen, ihre eigenen Grenzen zu ziehen, sich das Leben so zu gestalten, dass nicht zu viele Eindrücke ungefiltert auf sie einstürmen und schließlich auch lernen, ihre Wahrnehmungen zu kontrollieren und zu dosieren. Aber auch wenn sie das können, brauchen sie immer wieder reizarme Bedingungen, denn das Aufrechthalten der Abschottungsbarrieren und die Filtermechanismen kosten Kraft. Zum Auftanken müssen sie in die Natur, in ein stilles Zimmer oder möglicherweise für eine Zeit lang ganz und gar für sich sein. Das hat nichts mit Ablehnung anderen gegenüber zu tun, sondern es sind reine Überlebensmaßnahmen, so wie Sie vielleicht ein verqualmtes Zimmer verlassen würden, um endlich wieder atmen zu können.

Wenn Ihnen ein vertrauter Sensitiver das nächste Mal merkwürdig oder ablehnend erscheint, denken Sie daran: Er meint mit aller Wahrscheinlichkeit nicht Sie persönlich. Er muss einfach für eine Zeit sein inneres Radio ausschalten, um die inneren glühenden Drähte wieder abzukühlen. Lassen Sie ihn dann den Rückzug antreten – er kommt zurück.

Dies ist eine kurze Einleitung in die die Welt der Sensitiven, damit das Verstehen leichter fällt. Das Thema werde ich in weiteren Beiträgen aufgreifen. Warum ich sie Sensitive und nicht, wie landläufig, „hochsensibel“ nenne, erkläre ich im nächsten Beitrag über Sensitive.



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